Kang-La-Jhal 05.-09.08


Nach einer Woche Rumgebummel, Spaziergängen, Aussicht bestaunen und Verränkungen und Stärkungsübungen im Yoga ist es wieder Zeit für eine Bergbesteigung. Wer in Leh ein bisschen in die Höhe will, landet schnell beim Kang-La-Jahn, oder offiziell: Stok Kangri. Dieser Berg ist 6124m hoch und gilt als Einsteiger für die 6000er, vor allem da er schnell "gemacht"  werden kann (3-5 Tage) und keine technische Erfahrung benötigt wird.

Historisch betrachtet gibt es folgende interessante Informationen: Khang-La-Jhal bedeutet, der Gipfel "von dem aus man den heiligen Gletscher sehen kann" (Gletscher-dort-sehen). Der heilige Gletscher ist der Kailash. Der Berg der Götter ist sowohl Hinduisten als auch Buddhisten heilig und liegt in Tibet. Er ist bis heute unbestiegen, da nur "jener, dessen Herzen frei von Sünden ist" einen Versuch starten dürfte. Reinhold Messner hat vom Dalai Lama übrigens die Erlaubnis, es trotzdem aus Respekt nicht getan.

Blick von Leh auf den Stok Kangri (ganz rechts)

Wir sind Behördengänge im Namen der Berge ja schon gewohnt und sind gespannt, was uns dieses Mal erwartet. Wir informieren uns im Lonely Planet über die Öffnungszeiten des IMF (Indian Mountaineering Foundation) und schauen dementsprechend dort vorbei. Das Büro ist zu, niemand da. Die Zeiten haben sich quasi umgekehrt: Man kann täglich ab 17:30 seine Permit beantragen! Genial. Den Job mach ich auch mal. Die Lässigkeit, die sich durch die Änderung angekündigt hat, bestätigt sich am Abend, als wir Sonyam, den IMF-Onkel, kennenlernen. Der Mitte-Sechzigjährige führt sein kleines Büro aka Wintergarten nach seinem Gusto. Er ist, nach eigenen Angaben, der jüngste Inder, der den Everest bestiegen hat und hat heute die ehrenvolle Aufgabe den Touris, die benötigten Permits auszustellen. Er scheint wirklich Spaß daran zu haben, hält mit jedem ein Pläuschchen und fragt die Frage aller Fragen: Why do you want to climb it? 
Öhm, ja, gut,... Jetzt ne gute Antwort haben...
"Nature? Freedom? Training?"
"No!" sagt er, "Because it's there."
(berühmtes Zitat von George Mallory, zum Thema Everest)
Zum guten Schluss gibt es einen Stempel und eine persönliche "Wegbeschreibung", die mehr einem Kulturreiseführer gleicht.



Wir wissen zwar, dass es sogenannte Parachute-Zelte auf der Strecke mit Verpflegung gibt und dass man im Base Camp Equipment ausleihen kann, entscheiden uns aber trotzdem dafür alles hier zu besorgen.
So ein touristischer Ort wie Leh bietet richtig gute Einkaufsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu Parang La, wo die monotone und suboptimale Verpflegung uns zu schaffen gemacht hat. Denn nach drei Tagen ist Nudeln mit Suppenpulver als Abendessen doch etwas fad. Hier finden wir sogar gefriergetrocknete Fertiggerichte aus Deutschland. Eine Agentur arbeitet anscheinend viel mit dem DAV Summit Club zusammen und hat über den Kontakt zwei Reisetaschen voller Verpflegung erhalten. Voller Vorfreude auf Pilzrisotto und Nudeln mit Käsesauce durchsuchen wir die Packungen, finden jedoch nur Beef Stroganoff, Carbonara Nudeln und Früchtemuesli. Aber immer noch besser als die bisherigen Versuche, Abwechslung in die Zeltküche zu bringen. 

Tag 1
Es fährt kein Bus mehr zum Ausgangspunkt für die Wanderung, anscheinend grassiert hier Größenwahn durch zu heftigen Tourismus. Es gibt noch nicht einmal Shared Taxis, nur noch Private. Das soll nach Stok 600 Rupie kosten, 30 min Fahrt, was so schon teuerer ist als im gesamten Rest Indiens. Was er nicht sagt, ist, dass der Startpunkt des Wanderweges 5 min Fahrt außerhalb Stoks liegt. Als wir dort ankommen, stellen wir angesäuert fest, dass die Fahrt von Leh dorthin 900 Rupie kostet. Spätestens jetzt ist uns bewusst, dass hier andere Dimensionen des Tourismus herrschen.

Nach drei Tagen Yoga brauchen unsere Körper etwas, wieder ins Gehen zu kommen. Der Rucksack drückt schwer auf den Schultern, es ist ermüdend heiß morgens um 9 Uhr. Der Weg ist jedoch sehr schön, führt uns den Fluss entlang in das steiler werdende Tal, entlang beeindruckender Felsformationen.




Mittags kommen wir im ersten Lager an. Wir sind froh nicht noch weiter zu müssen. Auch auf grund der Akklimatisation sollten wir nicht noch höher schlafen. Es gibt ein Teezelt und etwa zehn Mietzelte, man müsste also noch nicht einmal Zelt, Isomatte und Schlafsack hochtragen, so wie wir das tun. Unsere alpine Eitelkeit und der erhoffte Trainingseffekt wirken etwas ambitioniert neben den anderen Bergsteigern, die mit Tagesrucksäcken an uns vorbeikommen.
Wir ziehen uns ins Zelt zurück, lesen und dösen vor uns hin.



Tag 2
Unser Plan für heute (Camp 1 --> ABC) wird früh morgens umgeworfen. Es ist nicht mehr gestattet ein vorgelagertes Basis Lager aufzuschlagen. Das sogenannte ABC liegt etwas höher als das Base Camp. Dort das Zelt aufzustellen hätte uns beim Aufstieg zum Gipfel einiges an Höhenmetern erspart. Den Grund verstehen wir aber recht gut: Unter dem Lager fließt das Gletscherwasser des Stok Kangri ab und wird später zum Stok Fluss, der das gesamte Tal mit Trinkwasser versorgt. Wenn dort regelmäßig Camps mit den zugehörigen Fäkalien entstehen, ist das Wasser verschmutzt und gesundheitsschädlich für die ganze Region. Die Einstellung hat unser vollstes Verständnis, nur das uns das niemand gesagt hat, ist einfach ärgerlich.

Gemütlich geht es Richtung Basecamp, denn das ist nur zwei Stunden entfernt. Uns kommen viele andere Wanderer und Pferdekolonnen entgegen.
Wir kommen vor dem Mittag an und sind zuerst erschrocken wegen der Größe: Bestimmt 50 Zelte stehen auf der Ebene um ein Parachute-Teezelt herum, eine Menge Pferde grasen auf den Hängen. Die Stimmung ist aber sehr entspannt, das Teezelt wird von einer Studentenorganisation betrieben, die Menschen sind freundlich. Wir fühlen uns schnell wohl.



Wir treffen zwei Israelis, die sich ungewohnterweise mit uns unterhalten, anstatt mit ihren Landsleuten abzuhängen. Schnell kommen wir zum Thema Wehrpflicht. Sie erzählen, dass man durchaus verweigern kann. Nur tut das kaum einer, weil sie nach der Schule zu jung sind und nicht wissen was sie sonst anderes tun sollten. Außerdem verdient man so schnelles Geld und kann sich im Anschluss eine Weltreise leisten. Aus ihrer Perspektive würde kaum ein Israeli nach seiner Rückkehr vom Backpacken auf die Idee kommen zur Armee zu gehen. Wir erzählen, wie wir es gemacht haben und wie es heute bezüglich Wehrpflicht und Abitur aussieht.
Es ist schon ein krasser Unterschied. Wenn man uns zu hört könnte man glauben, dass man in Deutschland mit 20 seinen Bachelor hat und die Israelis kommen vom Reisen zurück und wissen mit 25 noch nicht was sie machen wollen. Genaue Zahlen diesbezüglich würden mich mal interessieren.
Letztendlich haben wir die gleiche Ansicht: Armee ist bullshit, eine verpflichtendes soziales Jahr sollte es geben, damit man sich nicht direkt nach der Schulzeit für irgendwas entscheiden muss.
Wir trinken unseren Tee aus, man sieht sich bestimmt nochmal.

Ohne ABC ändern wir unseren Plan; wir wollen Seil und Steigeisen an den Fuß des Gletschers bringen, der eine Stunde entfernt liegt, damit wir nachts kein überflüssiges Gewicht tragen müssen. Gesagt, getan, danach liegen wir rum und warten auf Mitternacht, dann soll es nämlich losgehen.

Die indischen Gruppen starten schon gegen 21/22 Uhr. Sie wissen einfach, dass sie langsamer sind, stehend dazu und beißen sich an die 12 Stunden den Berg hoch. Hoch. Als wir nämlich nachmittags gegen 16 Uhr unser Equipment hochtragen, kommen uns mehrere Gruppen entgegen, die gegen neun Uhr auf dem Gipfel gewesen sind.
Man kann über die Berggehversuche der Inder sagen, was man will,  aber es gibt einen kleinen Teil, der eine solche Willenskraft und Zähigkeit beweist, die uns tief beeindruckt.

Tag 3
Sind wir jetzt doch aufgeregt? Ich bin einfach hellwach und meine Gedanken wandern in Richtung Deutschland. Bald ist Bundestagswahl und ich glaube ich habe mich inhaltlich und taktisch noch nie so intensiv damit auseinandergesetzt wie dieses Jahr. Aber jetzt sollte ich eigentlich schlafen und nicht über Datenschutz, Kartell-Absprachen in der Automobilindustrie und Migrationsrechte nachdenken. Dieser Vollmond! Seit 22 Uhr scheint er mit der Kraft von Stadionbeleuchtung in unser Zelt.

Dann ist es plötzlich doch Mitternacht. Ich habe maximal 2 Stunden geschlafen. Tobias vielleicht eine halbe. Es ist wirklich sehr hell. Trotzdem machen wir unsere Stirnlampen an, um kleinere Unebenheiten nicht zu übersehen. Vor uns sind mehrere Gruppen gestartet. Kleine Raupen aus Lichtern kriechen in der Ferne über den Gletscher, den Hang hinauf und auf den Bergkamm zu. Manche sind schon richtig weit, anderen sieht man an, dass es langsamer vorwärts geht. Manche Lichter lösen sich von den Gruppen, der Kegel der Lampe wendet sich vom Berg ab, geht ins Tal. Bestimmt 10-15 drehen um und kommen uns entgegen.




Wir sind nicht so fit, das merken wir schnell. Dieses frühe Aufstehen bringt unsere innere Uhr total durcheinander. Wir sollten langsam was essen, haben aber keinen Appetit. Wir machen viele Pausen. Fast sechs Stunden brauchen wir bis zum Kamm. Vor allem die 500 Höhenmeter im Zickzack über einen Schneehang von knapp 40 Grad Steigung ziehen sich: zu steil, um mit dem ganzen Fuß zu gehen, zu flach, um die Vorderzacken der Steigeisen zu nutzen.


Die Sonne geht langsam auf,  verschwindet aber direkt hinter einer Wolkendecke. So gut scheint das Wetter und somit die Sicht nicht zu werden; es gibt also keinen Grund zur Hektik.


Auf dem Rücken wird es dann steiler. Die meisten halten sich auf dem felsigen Bereich, wir fühlen uns jedoch im Schnee wohler. Die Bedingungen sind perfekt: der Schnee ist hart gefroren, so können wir schneller, einfacher und sicherer an Geröll und Felsen vorbei steigen. Außerdem macht es viel mehr Spaß im Licht, mit Sicht, über Schnee zu klettern, als 6 Stunden in einem dunklen Gefrierschrank (nichts anderes war dieser nächtliche Gletscherkessel) ohne ersichtlichen Fortschritt im Zickzack zu laufen.


Nach sieben Stunden erreichen wir den Gipfel. Beim Aufstieg hatte ich noch behauptet, ich könne den Kailash sehen. Jetzt sehen wir gerade noch Nun und Kun. Trotzdem ist das Panorama beeindruckend: im Westen Kaschmir und Pakistan, im Osten Tibet, unter uns die Täler von Indus und Markha. Außerdem genießen wir ein seltenes Privileg: wir sind allein auf dem Gipfel. Die Gruppen, die schon zum Sonnenaufgang oben waren, sind schon wieder runter, andere noch nicht oben.




Nach dem Verzehr der wohlverdienten Gipfelschokolade steigen wir wieder ab. Da der Schnee, dank der Sonneneinstrahlung etwas aufgeweicht ist bietet sich mal wieder die himalajanische Absteigetechnik an. Etwa 500hm rutschen wir auf dem Hosenboden hinab. Dafür ist die Neigung perfekt! Es ist gerade so schnell, dass man Spaß hat, ohne die Befürchtung zu schnell zu werden und die Kontrolle zu verlieren. Von vorherigen Rutschpartien gibt es eine richtige Bahn, die auch noch leichte Kurven und sanfte Wellen drin hat. Verrückt dieser kindliche Spaß, wenn man sich 5 Stunden vorher noch voll konzentriert, in Eiseskälte den gleichen Hang hoch gearbeitet hat.

Gegen Ende der Bobbahn fällt uns eine einsame Person auf. Das Bergsteiger hier solo unterwegs sind, ist nichts besonderes, aber die haben meistens Erfahrung oder sind zumindest sehr selbstbewusst und allgemein trainiert. Die Figur am Rande des Hangs wirkt eher desorientiert. Aus der Entfernung rufen wir; keine Reaktion. Erst aus unmittelbarer Nähe reagiert er auf uns. Sein Gesicht ist ganz bleich. Bei uns klingeln alle Alarmglocken und wir checken ab: Wie ist sein Gleichgewicht, Blickfeld, Orientierungssinn? Probleme beim Atmen? Wie soll man den rapiden Leistungsabfall einer Person bestimmen, die man erst seit zwei Minuten kennt? Er sagt, er ist vor allem müde. Cola! Wir haben unsere Ueli Steck-Gedächtnis-Cola noch! Kurzerhand legen wir unsere Rucksäcke ab, lassen ihn drauf sitzen und Cola trinken. Sein Name ist Avind, er kommt aus Hongkong. Er ist auch seit 12 Uhr nachts unterwegs, scheint erst einen halben Liter getrunken und ein Snickers gegessen zu haben und trägt keine Sonnenbrille. Nachdem er gemerkt hatte, dass er es nicht auf den Gipfel schaffen würde ist er umgekehrt, bewegt sich seit dem aber nur noch im Schneckentempo bergab.

Wir nehmen ihn in die Mitte unserer kleinen Zweierseilschaft. Tobias trägt seinen Rucksack. Ich laufe hinter ihm. Liegt das jetzt an der Müdigkeit, dass er über die Steine wackelt, als hätte er Gleichgewichtsstörungen, oder ist das fortgeschrittenens HACE (Gehirnschwellung ausgelöst durch AMS)? Auf dem Gletscher stolpert er und fliegt der Länge nach aufs Eis, schreit. Mir bleibt das Herz kurz stehen. Jetzt bitte nicht noch ein Bänderriss, wir haben keine Möglichkeit hier jemanden raus zu fliegen. Die schnellste Möglichkeit in ein Krankenhaus ist ein vierstündiger Ponyritt vom Base Camp nach Stok und eine weitere Stunde Taxifahrt nach Leh. Und bis zum Base Camp brauchen wir so bestimmt noch 2-3 Stunden.
Anscheinend hat er sich vor einem Monat die Bänder an eben diesem Fuß überdehnt. Jetzt bekommt er meine Wanderstöcke und kann weiter humpeln. Meine Schuhe will er nicht,  obwohl die steifen Koflachs seinen Knöchel schön entlastet hätten.
Das Fußthema gibt der Frage zu seinem sonstigen Zustand eine neue Brisanz. Für den Fall, dass er HACE hat und wir ihm das jeweilige Medikament geben, müsste er trotzdem innerhalb von sechs Stunden wieder in Stok sein. Er sagt aber, dass er vor allem müde ist.
Es ist 11 Uhr.
Wir entscheiden uns für die Strategie, ihm eine Diamox zu geben. Wenn er HACE hat, hilft ihm die nicht weiter, sondern er baut auch im Base Camp weiter ab. Dann würden wir ihm Dexametason geben und schnellstmöglich ein Pony ins Tal organisieren.
Immer wieder machen wir Pausen, lassen ihn Cola und Wasser trinken, Snickers und Energieriegel essen. Kurz scheint er nochmal abzubauen, doch dann kommt die Farbe ins Gesicht zurück.
Zurück im Base Camp verordnen wir ihm noch viel zu trinken und zeigen unser Zelt für den Fall der Fälle. Danach schlafen wir alle etwa 4 Stunden. Beim Abendessen langt Avind gut zu. Gefahr gebannt.
Unsere Theorie hat sich bewahrheitet, er war einfach im krassen Unterzucker, Übermüdet, Überfordert und Dehydriert. Das reicht schon Allemale, um sich am Berg in Gefahr zu befinden. Trotzdem sind wir froh, dass es "nur" das war. AMS kann um einiges schlimmer ausgehen.

Der Rückweg am nächsten Tag ist unspektakulär. Es kommen uns nur richtig viele Wanderer und Pferdekarawanen entgegen. Im Base Camp wird es wieder voller werden.



Wir sind stolz auf unsere erste gemeinsame Bergbesteigung über 6000. Das Ereignis mit Avind hat dem Ganzen aber einen neuen Aspekt verliehen: Tobias und ich kennen jeweils unsere Geschwindigkeit. Wir würden es merken, wenn einer von uns unverhältnismäßig langsam wird. Wir wissen, dass ich im der Höhe grundsätzlich kalte Füße habe und einen Ruhepuls um die 60, ohne dass es problematisch wird, dass das aber bei Tobias kein gutes Zeichen wäre.

Wenn du alleine am Berg bist und etwas schief geht, kannst du froh sein, wenn dir Fremde versuchen zu helfen. Dennoch fehlen ihnen Informationen, wenn du sie nicht hast, nicht mitteilen kannst oder nicht wahrnimmst. Mit Freunden am Berg hat man eine gute Kontrolle, kann sich gegenseitig checken. Letztendlich gilt aber, wie beim Yoga die Woche zuvor: You are your own Master.

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