Im Land der goldenen Gummistiefel 14.-24.4.

Ein Bericht über den Goecha La Trek und über Erfahrungen und Erwartungen am Berg.

Ich wache nachts auf. Es gewittert. Die Blitze erhellen das Zimmer im Sekundentakt. Der Donner schreckt die Hunde auf. Das ganze Rudel heult und kläfft mit dem Wetter um die Wette. Ich huste immer noch den Straßenstaub der Anfahrt aus meiner Lunge und füge mich in die Geräuschkulisse ein. 

Wir sind in Yuksom. Morgen soll unsere Wanderung zum Goecha La starten. Ein Pass mit Blick auf den Kadchenzonga, dem dritthöchsten Berg der Erde, der in Indien alles Göttin verehrt wird. Nach Delhi Chaos, Darjeeling mit meiner AC-Erkältung und Durchfall, daher aufgehobenen Tageswanderungen und der Erkenntnis, dass es hier verboten ist eigenständig Mehrtagestreks zu unternehmen, haben wir uns dazu hinreißen lassen für xxyyz Rupie p. P.  (viel Geld, auch in Euro) einen Trek mit Guide, Koch und Yaks zu buchen. Die Verheißung endlich in die Natur zu kommen, Berge um sich herum und blauen Himmel über sich zu haben und vielleicht auch ein kleines Zucker-High zogen uns in die nächste Tour Agency.

Jetzt liege ich im Bett und spüre noch die Nachwehen der Scham. Gott.  So viel Geld. Gleich am Anfang der Reise. Und als ob die Gewissensbisse nach dem Handschlag nicht genug wären, spucken die verdammten Geldautomaten nur maximal 10 000 Rupie aus. Mehr noch, in der Hauptstadt der indischen Schweiz scheinen die Banken mit dem Drucken nicht hinterher zu kommen; die Hälfte der Automaten sind leer, vor den anderen sind lange Schlangen und nach uns muss es keiner mehr versuchen. Was für ein widerliches Gefühl, wie dumme goldene Kühe, die sich selbst zum Melken führen.

Wie das wohl wird die nächste Woche? 9 Tage mit wildfremden Menschen am Berg. Menschen, die du eigentlich gar nicht brauchen willst. Die dir aufgezwungen werden und von denen du dich gegen deinen Willen abhängig machst. Tobias hat sich alle Mühe gegeben sowohl dem Typ von der Agency als auch dem Guide im gestrigen Gespräch klar zu machen worum es uns geht: No luxury,  we are not King and Queen! No tables! No chairs! Wir tragen unser eigenes Gepäck. Wir haben unser eigenes Equipment.
Yes, sir, how you like.
Above all; we are not Sir and Madame, never!
Veg, non-veg?
Veg
Ob wir Eier essen? Sind die noch ganz dicht? Wollen die Eier auf den Trek mitnehmen? Frische?

Zum Mäuse melken. Wir sprechen mit dem Guide in Yuksom und merken, das keine der Vereinbarungen, die wir mit der Agentur in Gangtok getroffen haben übermittelt wurde. Ein Gefühl braut sich zusammen, dass wir hier Geld für eine Bergerfahrung verpulvern die  grotesker nicht sein könnte und die wir uns gut und gerne hätten sparen können. Fuck you Sikkim und deine Ambitionen ein exklusives Reiseland zu werden. Und jetzt auch noch Gewitter.

Tobias legt unsere Gedanken in seinem Beitrag "Wem gehört der Berg" sehr schön dar.

Der Morgen ist klar und sonnig. Langsam mischt sich ins Mißtrauen eine Vorfreude. Nach diesigen Tagen sehen wir endlich Berge. Nach Wartezeit und Taxikutsche raus aus dem kleinen Ort geht es los. Wir laufen über einen schmalen Weg, grob gepflastert mit Natursteinen. Die Route führt uns in ein Tal, mäandert um die Bergrücken mit mäßiger Steigung durch einen wunderschönen Regenwald. Die Sonne die uns zu Beginn begleitet, verschwindet wieder hinter diesigen Weiß. Der Weg wird schattiger unter den dunkelgrünen Blättern, unterbrochen von den pinken und roten Blüten des Rhododendrons. Nebelschwaden und Regenschleier ziehen über bzw durch den Urwald. Unser Guide Navin läuft mal vor mal hinter uns. Unsere Yaks die keine Yaks sind,  sondern Ponys, sind schon voraus auf dem Weg nach Tshokka. Der Koch und sein Gehilfe lassen es sich nicht ausreden unser Zelt und die Schlafsäcke zu nehmen. Sowie es für uns wichtig ist unser eigenes Equipment zu tragen, ist es für sie eine Sache der Ehre nicht weniger als der andere zu schultern.

Wir laufen. Je mehr wir in der Natur und im Gehen angekommen desto mehr verlassen uns die Zweifel und Befürchtungen. Wir schwitzen den Dreck der Großstadt aus, finden unseren Rhythmus. Mit der Höhe ändert sich die Vegetation. Wir überqueren Hängebrücken in  schwindelerregender Höhe über rauschenden Bächen in tiefen Schluchten. Ich bewundere die Farben im Nebel. Zum Rhododendron gesellen sich wilde Magnolien. Die fleischigen, weißen Blüten leuchten im dunklen Blätterdach. Die erste Etappe unseres Treks zieht sich gegen Ende. Wir stapfen gemächlich zum Ziel. Das Dorf Tshokka wurde in den 1950ern von Tibetern gegründet, die hier am Ende ihrer Flucht über das Himalaja ein neues zu Hause fanden. Nun ist es unser Heim, für zwei Nächte werden wir bleiben und uns an die erste Höhenstufe anpassen (3000m).

In den folgenden Stunden fegen die Jungs unserer Crew das letzte Mißtrauen hinfort. Es gibt Black Ginger Tea mit Keksen, sie strahlen uns an, singen in der Küche des kleinen Holzhauses nepalesische Liebeslieder und lassen es sich nicht nehmen zumindest ein zwei Handgriffe beim Aufbau unseres Zelts zu helfen. Das Abendessen kommt zwar später als wir Hungrigen es gebraucht hätten, dafür aber sehr viel besser als wenn wir für uns gekocht hätten.

Während der Abendnebel den Blick auf die Sterne verwehrt, ist die Nacht eisig klar. Der Morgen wird sonnig und frisch, die Lust wie rein gewaschen. Wir machen Yoga, lesen uns das Labyrinth der Lichter von Zafon gegenseitig vor, essen und dösen in der Sonne. Gegen Nachmittags zieht es wieder zu. Die Sonne hat die Feuchtigkeit im Tal aufgewärmt und die Nebeldecke steigt nun langsam auf unseren Hügel und hüllt das Dorf ein. Dieses Phänomen begleitet uns die folgende Woche und bestimmt die Tagesplanung.

Am folgenden Tag wandern wir 1000 Höhenmeter zum Ort Dzongri. Jetzt kann man tatsächlich von Rhododendron-Wäldern sprechen, durch die wir uns bewegen, die Knospen stehen kurz vor der Blüte und versprechen in 1-2 Wochen ein kitschiges Bild, das nicht nur im übertragenen Sinne Kopfschmerzen bereitet wie Navin uns erklärt. Der Duft muss einfach krass sein.

Ich könnte jetzt von atemberaubenden Bergpanoramen und perfektem Wanderwetter erzählen, von klaren Seen in denen die Göttin Lakshmi gebadet haben soll und Sonnenauf- und untergängen vor malerischer Kulisse. Aber das könnt ihr euch vorstellen und dafür gibt es ja auch Fotos. Geschichten, die Bilder nicht erzählen können sind Momente in denen Fotoapparate nichts zu suchen haben. Gespräche, die geführt und Fragen, die gestellt werden. 

An unserem Akklimationstag in Dzongri machen wir einen kleinen Ausflug mit Navin. Wir kommen ins Gespräch. Aber Moment, ich muss ihn erst rein optisch beschreiben. Der Name wird übrigens mit einem weichen bv-Laut ausgesprochen, wie im spanischen. Er ist etwa 1,75m groß, schlank, sportlich, trägt nen Männer-Bun mit Undercut, die langen Haare zum Teil geflochten und als Dreads, trägt ne Bob Marley Cap, hat einige Tattoos und schielt. Wie sich herausstellt ist er, wie Tobias, 26 Jahre alt. Er ist glücklich verheiratet und hat eine vierjährige Tochter. Es startet mit harmlosen Fragen wie das so läuft in Deutschland, warum wir noch nicht verheiratet sind, ob wir denn wollen, ob Kinder geplant sind, ob wir vorher wirklich auch andere Partner hatten, wie viele, etc.

Dann wird er kurz stiller und fragt, ob er wissen dürfe, wie viel wir für den Trek gezahlt haben. Wir haben natürlich auch schon überlegt wie viel von unserem Geld wohl hier ankommt. Wir schlagen vor es ihm zu erzählen, wenn er uns sagt was er verdient. Er willigt ein. Long story short. Etwa 10% von dem was wir zusammen für den Trip geblecht haben landet beim Guide. Wir wissen nicht genau wie die Hierarchie in der Crew ist, aber mehr als Navin verdient höchstwahrscheinlich niemand. Lebensmittel, Eintritt zum Nationalpark, Verpflegung der Ponys; alles keine großen Ausgaben. Was für eine Abzocke! Und ich meine nicht mehr uns. Das was die Jungs hier für uns leisten ist jeden centimo wert. Das Essen ist hervorragend, frisch, viel Gemüse. Sie tragen einen Sack voll mit Blumenkohl, Kartoffeln, Auberginen, Gurken, Tomaten, Bohnen usw den Berg hinauf. Sie sind nett und witzig. Es gibt morgens zum aufwachen Chai, bei jeder Mahlzeit gibt es Auswahl und solche Mengen, dass wir nicht wissen wohin damit. Sie spielen bei unseren ersten Nepalesischen Gehversuchen mit und freuen sich über jedes danyebad (Dankeschön). Der Nationalpark ist wunderschön und schützenswert, wir verstehen, dass hier nicht jeder durch marschieren sollte. Wie haben uns gerade mit der Situation abgefunden und genießen es und müssen jetzt anfangen zu verstehen dass unser Geld im Arsch dieses Agency-Typen steckt, der damit nur noch reicher wird. Nämlich Arbeit hatte der mit uns nicht wirklich. Den gesamten Permit-Papierkram hat Navin hier erledigt. Das zusammenstellen der Crew: Navins Job. Kalkulation der Lebensmittel: Navin. Heraushören, was wir mögen, was nicht: Navin.
Und dieser Navin sagt uns jetzt, er könnte uns den Trek auch ohne Agentur und für die Hälfte anbieten.
Wir rekapitulieren:
Die Ausrüstung der Jungs ist unter aller Sau. Von Flip-Flops, über Sneakers, zu Gummistiefeln (wahlweise  golden oder camouflage) ist alles dabei, man sieht vereinzelt Trekkingsandalen, noch seltener Bergstiefel. Navin arbeitet die gesamte Saison durchgängig als Tourguide. Als wir ihn am ersten Abend kennenlernen kam er gerade vom Trek zurück, denn Pausentage kann er sich nicht leisten. Im Sommer arbeitet er als Hilfsarbeiter auf Baustellen. Santanam, der dem Koch assistiert, klopft sonst Steine am Straßenrand. Heißt, er sitzt den ganzen Tag vor einem Haufen großer Steine,  hat einen Hammer und macht sie zu kleineren. Für ihn ist es das erste Mal auf dem Trek, er und Navin kommen aus dem gleichen kleinen Dorf. Navin wollte ihm unbedingt mitnehmen und anlernen.
So viel Ungerechtigkeit lässt unser Herz links erst stolpern und dann wild schlagen. Der Trek sollte nicht weniger kosten. Er ist es wert. Das Geld sollte nur ankommen, wo es hingehört. Und das ist nicht die Miete und das Gehalt der Agentur in Gangtok.

Gedanken kommen auf; wir wollten unsere Entourage so klein wie möglich halten und ohne Hofstaat wandern. Sitzen wegen uns im Dorf jetzt 2 Porter und ein Assistent ohne Job? Wir beginnen ein Gespräch über soziale Absicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Renten, Kündigungsschutz und bezahlten Urlaub. Tobias bringt das Thema Gewerkschaften zur Sprache. Wir erklären das Prinzip und Navin ist fasziniert.
Hier treffen zwei Welten aufeinander. Für ihn haben wir einfach zu viel Geld für den Trek gezahlt. Er möchte es uns günstiger ermöglichen. Für uns ist es zwar viel aber wert. Er ist so froh einen Job zu haben, dass er eine andere Verbesserung seiner Lebensumstände nicht auf dem Schirm hat. Die Rechnung hier lautet noch: mehr arbeiten = bessere Lebensumstände. Wir zeigen ihm: mehr Rechte = bessere Arbeitsbedingungen = besseres Leben.

Nachmittags liege ich aufgewühlt im Zelt. Die Euphorie des vormittäglichen Crashkurses in Arbeitsrecht und Gewerkschaftsgründung und die Hoffnung einer kleinen Revolution sind gewichen. Natürlich sollten sich Guides, Porter und Köche zusammen schließen, Tarifverträge verhandeln und für ihre Rechte kämpfen. Auch die Idee die Agenturen zu umschiffen und den Touristen zu ermöglichen, sich direkt an Guides zu wenden, ist grundsätzlich gut. Was bedrückt mich? Wir haben Navin gezeigt, was auf anderen Teilen der Erde möglich sein kann. Wir haben das Grundprinzip erklärt, aber einen Fahrplan gibt es nicht. Ist es fahrlässig jemandem Ideen in den Kopf zu setzen? Gedankengänge an zu stoßen, ohne zu wissen wie es weitergeht?

Ich fühle mich in solchen Situationen wie die Botschafterin einer anderen Welt. Jemand aus der Zukunft, dem man Fragen stellen kann. Auf der Wanderung und auch später kommt dieses Gefühl immer wieder auf. Hier ein paar Beispiele:

Ein Mädchen (15) fragt mich, ob es denn stimme, sie hätte es gehört, aber man wisse ja nie, dass in Europa und Kanada und den USA und so, ob Mädchen, wenn sie 18 werden, ausziehen dürfen und umziehen können wohin sie wollen.

Einmal sitzen wir vor dem Zelt und trinken Tee. Aus dem Nichts erscheint ein Paar (Ende 20) vor uns und fängt an sich, wie auf Kommando, in Stereo bei uns aus zu kotzen. Ihr großer Wunsch den Goecha La zu wandern, das Unverständnis der Eltern, der Arbeitgeber, der ganzen älteren Generation, gegenüber ihrer Liebe zur Natur und zum Reisen. Die Unterdrückung der Frauen in Indien, Gewalt in der Ehe und warum das nicht von der Politik nicht stärker verfolgt wird. Aus ihnen sprudelt ein Schwall, der keiner Antworten oder Anmerkungen bedarf.

Eine Woche später beim Abendessen mit unserer Gastfamilie in Namchi erzähle ich, dass man nach dem Schulabschluss zum Studium in eine andere Stadt ziehen kann, woraufhin die 21 jährige Schwiegertochter mit aufgerissenen Augen fragt, ob das denn ein Gesetz sei. Ich beruhige sie und erkläre, dass das jeder für sich entscheiden darf. Ich erzähle, dass ich später auch gerne einen kleinen Garten hätte und zähle auf was ich alles anpflanzen würde. Die kleine Zwischenfrage des Gastgebers: So, you have land? Berechtigte Annahme, aber natürlich: Nein.

Beobachtung: Fragen und Gegenfragen eines Gesprächspartners können mehr über seinen Gedankenhorizont erzählen als seine Antwort.
Was ich gelernt habe: Es ist einfacher mit Indern über ihre Kultur zu reflektieren, wenn sie ihrer gerade entfliehen.

Wir sind noch immer auf dem Trek nach Goecha La.
Heute sind wir eine Stunde gewandert. Eine Stunde. Auf gleichbleibender Höhe (4100m). Wir sind bereits akklimatisiert, da wir schon seit 4 Tagen auf über 4000m sind. Der erste Tag war richtig anstrengend, 1200 hm, 17km, aber seit dem kommen wir kaum vom Fleck. Wir sind an keinem Tag länger als 4 Stunden unterwegs. Vormittags wird ein paar Stunden durch die Sonne spaziert und ab Mittag hängen wir im Nebel am bzw im Zelt herum. Ich hab tatsächlich ein wenig Langeweile und schaue den Jungs beim Kricket spielen im Nieselregen zu.
Die entspannten Tage sind schön und erklären sich im Hinblick auf die großen Etappe morgen. (4100 -> 4900 -> 3700) Aufstehen in der Nacht, Kadchenzonga im Sonnenaufgang am Goecha La genießen und wieder runter.
Navin kommt vorbei und bringt mir Tee.
"Wann stehen wir morgen auf? Wann geht's los?"
"Aufstehen gegen 3:30, Aufbruch um 4:00."
'Sonnenaufgang ist um 5:00, wir sind schnell aber so schnell steige ich keine 800hm, vor allem nicht in der Höhe und um die Uhrzeit.' denke ich
"Navin, wie hoch laufen wir morgen?"
"Zum ersten Viewpoint, der ist auf 4200m"
Mir entgleitet das Lächeln. '"Der erste Viewpoint? Warum laufen wir nur zum ersten?"
"Das forrest department hat in der Nähe des Zweiten einen Schneeleoparden gesichtet. Daher ist er zur Zeit gesperrt."
Ups.
Dafür die ganze Trödelei? Um zum Höhepunkt auf einen weiteren kleinen Aussichtshügel zu flanieren? Dafür das Geld? Die Zeit? Den Aufwand?
Abends gehe ich trotzig ins Bett. Es ist immer noch neblig und es nieselt. Ich will kaum ordentlich packen, (was soll man für ein Panoramahügelchen auch groß packen?) mache es dann doch. Vielleicht auch aus Trotz.

Wir starten in einer Nacht mit klarem Himmel. Das Himalaja, das wir gestern vor lauter Nebel fast vergessen hatten, leuchtet schneeweiß im Mond- und Sternenlicht vor uns und weist uns den Weg. Wir wandern immer weiter und höher und höher. Die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Spitzen des Kadchenzonga in warmes Orange. Aus dem sanften Gold des frühen Lichts wird eine blendende Reflektion. Wir beobachten wie sich das Massiv in diesem gleißendem Licht entblößt. Neben uns steht im Gegenlicht die vereiste Nordwand des Pandim, auf dessen Ausläufer wir uns befinden. Das Panorama ist einfach nicht greifbar: Die Moränen, der Gletscher, der leuchtende Schnee, das ewige Eis. Man kann es nicht verarbeiten, verstehen. Es ist zu nah, um es zu überblicken und zu fern, um es zu fassen. Mein Blick wendet sich immer wieder ab und betrachtet die pastellfarbene Wolkendecke im Tal, den silbrigen Pandim und sonnenbeschienene Hänge am namenlosen Berg gegenüber. Meine Füße frieren. Die Kälte ist im Windschatten des Naturschauspiels meine Stiefel hoch gekrochen. Da kann ich nicht mehr vor Ehrfurcht staunen, da muss ich mich einfach verabschieden und gehen. 

Beim Weg hinab treffen wir auf viele Gruppen, hauptsächlich Inder, die ihre von Ernährung und Büroarbeit gezeichneten Körper ohne Vorbereitung aber mit viel Ehrgeiz der Berg hinauf zwingen. Beim Blick zurück sehen wir wie Wolkenfelder an den Hängen entstehen. Jedem der uns fragend ins Gesicht blickt, sprechen wir Durchhaltevermögen und Kraft zu. Für diese Hindus ist es wie eine Pilgerfahrt, eine Lobpreisung der Mutter Natur.

Das Wetter ist heute vollkommen anders: große weiße Wolken fliegen über das Hochtal, die Sonne lacht und ein frischer Wind pustet unser Zelt trocken. Meine Haare sind offen. Meine Hände sind wieder warm. Die Füße . Mein ganzer Körper ist aufgetaut. Endlich kommt das Hochgefühl, dass ich oben ein wenig vermisst habe. Ich liebe dieses Wetter und ich liebe Hochtäler.

Der Goecha La ist ein wunderschöner Fleck der Erde und die Anblick des Kadchenzonga ist grandios. Was meiner Erwartung widersprochen hat ist, dass meine bisherigen Bergerfahrungen davon bestimmt sind auf Berge hinauf zu laufen, die ich von unten schön finde, um von dort auf die Welt hinab und neue Gipfel in der Ferne zu erblicken. Im Fall des Kadchenzonga / Goecha La - Treks ist ein einziger Berg über drei Wochen, ob sichtbar oder nicht, omnipräsent. Und anstatt ihn dann zu besteigen läuft man an einen Ort von dem man ihn, wenn das Wetter denn passt, von Nahem, ergo wie im Kino in der ersten Reihe, bestaunen kann. Dann sitzt man dort mit dem Kopf im Nacken, im Schatten eines riesigen Berges und friert sich die Glieder ab und bestaunt kollektiv ein sonnenbeschienenes Bergmassiv, dass man auch vor vier Tagen schon aus einem anderen Winkel und mit den ersten Sonnenstrahlen im Gesicht hat betrachten können.

Im Nachhinein muss ich schmunzeln. Was für ein Spannungsaufbau in Darjeeling, in den Reiseführern, von den Reisenden betrieben wird. Wie wir uns haben mitreißen lassen. Wie ich meine Gefühle am Gipfel nicht einordnen konnte und tatsächlich 2-3 Tage gebraucht habe, um mit Tobias meine Gedanken dazu formulieren zu können und weitere zwei Wochen, um diesen Text zu finalisieren.

Die Wanderung war vollkommen anders als erwartet. Eine neue Erfahrung. Und ich bin sehr dankbar, dass es genau so war. Wenn alles so gelaufen wäre, wie wir uns das Trekken in Sikkim ausgemalt hatten, hätten wir die Gespräche mit Navin nicht geführt, nachmittags keine Zeit zum Kennenlernen der anderen Wanderer gehabt, wären beim Wandern nicht so Aufmerksam für unsere Umgebung gewesen, hätten nicht so gut gegessen und vor allem nichts über unsere Erwartungen am Berg erfahren.

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